Schon 2020 hat Wolfram Eilenberger ein Buch über „die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933 – 1943)“ veröffentlicht. Es trägt den Titel „Feuer der Freiheit“ und liest sich heute wie ein Kommentar zum aktuellen Kampf um die Freiheit in der Ukraine.

Eilenberger beschreibt das Denken und Leben von Simone Weil, Hannah Arendt, Ayn Rand und Simone de Beauvoir in diesen aufwühlenden und kriegerischen Jahren. Er zitiert darin einen bemerkenswerten Essay von Simone Weil über Krieg und Gewalt. Weils zentraler Gedanke ist, dass Krieg mit seinem entgrenzten Verhältnis zur Gewalt eine Verdinglichung des Menschen bewirkt. Und zwar nicht nur derjenigen Menschen, die unmittelbar Gewalt erleiden, sondern aller Menschen: denen, die von ihr bedroht sind, ebenso wie denen, die sie ausüben. Ein Ende der Lebendigkeit.

Nun könne es, so Weil, aber nicht darum gehen, Gewalt gänzlich aus der Welt zu schaffen; ein unrealistisches Ziel. Stattdessen gehe es um Aufklärung: „Nur wer die Herrschaft der Gewalt kennt und ihr nicht zu gehorchen versteht, kann lieben und Gerechtigkeit üben.“ (zitiert nach Eilenberger, S. 238) Hier deshalb zwei zentrale Erkenntnisse von Weil, die uns auch in den aktuellen finsteren Zeiten weiterhelfen können:

„Der Starke ist nie ganz stark, der Schwache nie ganz und gar schwach, aber beide wissen es nicht.“ (zitiert nach Eilenberger, S. 238)

„Wer die Macht hat, bewegt sich in in einem Milieu, das ihm nicht widersteht, ohne dass in der Menschenmasse um ihn herum irgendetwas dazu geeignet wäre, zwischen Impuls und Handlung den kleinen Abstand zu schaffen, in dem Raum für Denken bleibt. Wo das Denken keinen Platz hat, kann es weder Umsicht noch Gerechtigkeit geben… Da andere ihnen nicht den Einhalt gebieten, den die Rücksicht auf unsere Mitmenschen verlangt, kommen sie zu dem Schluss, dass ihnen das Schicksal alle Rechte verlieh und den ihnen Unterlegenen keine. So überschätzen sie ihre Kräfte. Sie müssen sie überschätzen, weil sie ihre Grenzen nicht kennen. Das liefert sie unwiderruflich dem Zufall aus und sie sind nicht mehr Herr der Lage.“ (zitiert nach Eilenberger, S. 240)

Was können wir also tun? Wir können immer wieder um diesen kleinen Abstand kämpfen, in dem Raum für Denken bleibt.

Literatur: Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit, Stuttgart 2020

Wir haben alles, was wir brauchen. Wir haben die wirtschaftlichen Mittel. Wir haben das Wissen, wie man vernünftig miteinander umgeht. Wir wissen, wie gute Kommunikation funktioniert. Wir haben die technischen Möglichkeiten. Wir haben eine offene, demokratische, liberale Gesellschaft. Es ist alles da. Und trotzdem herrscht Pessimismus (Vgl. den Security Radar 2022 der Friedrich-Ebert-Stiftung) und man hat das Gefühl, sich auf einer schiefen Ebene zu befinden: ein Krieg in Europa scheint wieder möglich, die demokratische Basis der USA scheint ernsthaft in Gefahr zu sein und die Verbreitung demokratischer Strukuren ist weltweit rückläufig (vgl. den Demokratieindex 2021 der Zeitschrift The Economist), der Umgang mit Fakten wird beliebig, die Maßnahmen zur Abmilderung des Klimawandels kommen nur äußerst zäh voran, die ökonomischen Spaltungen nehmen zu uswusf.

Nun herrscht auch kein Mangel an Erklärungen, warum das so ist: bevorzugte mediale Aufmerksamkeit für schlechte Nachrichten; im Steinzeitalter stecken gebliebene Entwicklung unserer Hirnfunktionen und archaischen Wahrnehmungsmuster, die der Unübersichtlichkeit der VUCA-Welt nicht gewachsen sind; sich selbst verstärkende und polarisierende Click-Bait-Bubbles; die Langwierigkeit demokratischer Prozesse.

Aber irritierend ist doch: Wenn wir uns das alles erklären können, dann müssten wir doch in der Lage sein, einen anderen Umgang damit zu finden.

Vielleicht sollten wir aufhören, vor allem gegen Bedrohungen zu kämpfen. Vielleicht sollten wir stattdessen wieder anfangen, uns zu überlegen, in was für einer Welt wir leben möchten. „Strengt Euch an!“ heißt ein lesenswertes Buch von Wolf Lotter (Wolf Lotter: Strengt Euch an, München 2021). Lotter beginnt mit einer Gedichtzeile von Bertold Brecht, die im Jahr 1949 nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs entstand: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns. Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“ Und dann fügt er hinzu: „Es ist viel schwieriger, sich unter guten Bedingungen anzustrengen, als in Zeiten bitterer Not, in denen es um Leben und Tod geht. Aus den Komfortzonen heraus Ziele zu schaffen und Zukunft zu denken, damit haben Menschen kaum Erfahrung. Aber wenn wir uns nicht anstrengen, genau das zu tun, führt die Ebene in den Untergang.“ Wie es aber gehen könnte, dazu hat Harald Welzer ein paar anregende Überlegungen zusammen getragen. (Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst, Frankfurt 2021) Welzer schlägt uns vor, einen Nachruf auf uns selbst zu verfassen anhand der Frage: Wer will ich gewesen sein? Vom Ende her denken, um sich dann im alltäglichen Leben an diesen Leitgedanken orientieren zu können.

Wer also wollen wir gewesen sein?

Neulich in einem Coaching berichtete mir eine Führungskraft, wie sich ihr Privatleben durch eine mehrmonatige Abwesenheit ungewollt verändert hatte: „Früher war es ein Ritual, dass samstags die Kumpels zum Fußballgucken zu uns in die Garage kamen.“ Nach seiner Rückkehr war das plötzlich nicht mehr so; jetzt traf man sich halt woanders. Der Versuch, das Ritual wieder aufleben zu lassen, scheiterte; die neue Gewohnheit war längst fest etabliert.

Eine Kollegin wiederum erzählte, wie schwer ihre Kundensysteme – v.a. soziale Einrichtungen – sich im Augenblick damit täten, die früher üblichen Teambesprechungen und Supervisionen wieder in den Alltag zu integrieren. Angesichts von Zeitdruck und der Hygienevorschriften seien viele Tätigkeiten an die Stelle dieser Gespräche getreten. Man wisse gar nicht mehr, wie man nun die Supervisionen zusätzlich (!) noch organisieren solle.

In vielen Organisationen spielt sich derzeit auch nach meiner Beobachtung Vergleichbares ab: Der Corona-Alltag hat bestehende Rhythmen, Strukturen, Rituale durcheinander gewirbelt. Dabei waren Mitarbeiter/innen und Führungskräfte damit beschäftigt, das Tagesgeschäft zu managen. Für grundsätzliche Überlegungen, ob die neuen Gewohnheiten und Arbeitsweisen genau so auch sinnvoll sind, blieb wenig Zeit und Energie. Entstandene Lücken wurden ungeplant und unsystematisch gefüllt, um die täglichen Anforderungen zu bewältigen. Dabei ist manches auf der Strecke geblieben, was nun schmerzlich vermisst wird, was sich aber nicht ohne Weiteres wiederherstellen lässt.

Auch vorher schon ließ sich ein Trend beobachten, dass sich Arbeitsverdichtung und Zeitdruck tendenziell auf Kosten von Meta-Reflexion, Teamabstimmung, Supervision und ähnlichen „Pausen“ außerhalb des Hamsterrads auswirkten. Während der Kontaktbeschränkungen sind insbesondere Teammeetings und Gelegenheiten zur gemeinsamen Reflexion weggefallen. Es wird gar nicht so leicht sein, hierfür wieder „Lücken“ zu schaffen – obwohl gerade jetzt der Bedarf dafür enorm ist, denn die Verarbeitung der Corona-Pandemie und ihrer Auswirkungen beginnt gerade erst und die nächsten Herausforderungen werden nicht lange auf sich warten lassen.

Zusammenfassung: Das Bedürfnis nach Sinnstiftung und Authentizität in der Arbeitswelt nimmt zu. Es könnte sein, dass die Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft und die damit verbundene Ausdifferenzierung unserer Selbst in viele, allzu viele „Segment-Ichs“ (Theweleit) an einen Punkt gelangt, wo es dem Einzelnen und auch der Gesellschaft nicht mehr ohne Weiteres gelingt, die inneren Spannungszustände zu integrieren. Das wäre einerseits bedrohlich, weil unbewältigte Spannungsverhältnisse wie Sprengstoff auf die Psyche wie die Gesellschaft wirken können. Darin läge aber auch eine echte Chance – etwa für eine sozial-ökologische Transformation und für ein Ende des Beschleunigungs- und Wachstumsmythos.

Zwei Fragen

In meinen Beratungsprozessen und Coachings tauchen zunehmend zwei Fragen auf:

  • Wie schaffe ich oder wie schaffen wir es, unserem Handeln einen tieferen Sinn zu geben? Alternativ: Wie schaffen wir es, angesichts von allen möglichen Sachzwängen, den Sinn unseres Handelns nicht aus den Augen zu verlieren?
  • Wie gelingt es mir, mich nicht zu verbiegen? Wie kann ich mir selbst treu bleiben? Wie bleibe ich in meinen verschiedenen Rollen und Funktionen authentisch?

Zuerst hatte ich gedacht, dass mir diese Fragen nur deshalb häufiger begegnen, weil sie mich auch selbst umtreiben. Es ist oft so, dass man als Coach genau für solche Klientinnen und Klienten ein guter Sparringspartner ist, die mit ähnlichen inneren Themen beschäftigt sind. Darüber hinaus dachte ich auch, dass diese Fragen, die potenziell für jeden eine Herausforderung darstellen, gewissermaßen eine antropologische Konstante sind. Fragen also, die sich die Menschen immer schon und über alle Kulturen hinweg gleichermaßen gestellt haben.

Transformation der Gesellschaft und Modernisierung der Seele

Wenn man sich allerdings die Ratgeber- und Managementliteratur anschaut, dann scheint dieses Bedürfnis nicht nur ausgerechnet in meinen Beratungsprozessen an Bedeutung zu gewinnen. Es scheint ein sich ausbreitendes Phänomen in der Arbeitswelt zu sein. Paradebeispiel ist sicher das Werk von Frederic Laloux „Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit“, das seit seinem Erscheinen im Jahr 2014 Furore macht, inzwischen über 600.000 mal verkauft wurde und eine Welle von Fach- und Ratgeberliteratur nach sich zog, die allesamt die Vorteile von Sinnstiftung und Authenizität in der Arbeitswelt ausarbeiten oder gar anpreisen. Doch die Vorteile und Auswirkungen von Sinnstiftung und Authentizität werden dabei eher schlicht proklamiert und wenig hinterfragt: Für den Menschen an sich ist es halt besser, gesünder, und für die Unternehmen ist es ein Wettbewerbsvorteil, wenn die Mitarbeiter*innen zufrieden sind. Die Ursachen für die zeitgenössische Suche nach Sinn werden weniger reflektiert.

Zur dieser Art von Sinnstiftung und Authentizitätsversprechen habe ich ein ambivalentes Verhältnis (ausführlich dargestellt in Robert Erlinghagen/Rainer Witzel: Jetzt seid Ihr dran. Über Agilität, in: Positionen 1 (2019)). Denn der Schritt von der gemeinschaftlichen Sinnstiftung zum Fundamentalismus und der Schritt von der Forderung nach Authentizität zur Kompromisslosigkeit ist manchmal nicht allzu weit.

Nun habe ich in den vergangenen Monaten einige Autoren gefunden, die diese Fragen noch einmal in ein ganz anderes Licht rücken: Klaus Theweleit, Armin Nassehi, Martin Dornes und Martin Altmeyer.

Theweleit spannt einen weiten Bogen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in dem er beschreibt, wie die Verwissenschaftlichung der Welt vor allem durch die Methoden der Segmentierung und Sequenzierung sich tief in unsere Psyche eingegraben hat. Segmentierung bedeutet Aufteilung, Aufspaltung, Zergliederung. Sequenzierung ist die Erstellung einer Abfolge. Segmentierung und Sequenzierung sind Voraussetzungen für Empirie und moderne wissenschaftliche Erkenntnis sowie für ökonomische Rationalisierung und Standardisierung. Sie schaffen zugleich die Voraussetzungen für die Wachstumsdynamik und die Beschleunigung ökonomischer und sozialer Prozesse. Ohne Segmentierung – also z.B. die Unterscheidung einzelner Produktionsschritte – und anschließende Sequenzierung – also z.B. die Aneinanderreihung und Vervielfältigung dieser Produktionschritte – gäbe es keine moderne Industrieproduktion. Segmentierung und Sequenzierung sind also Grundpfeiler für den ökonomischen Erfolg, den Wohlstand, den inzwischen erreichten Lebensstandard in modernen Gesellschaften. Sie sind aber – wie Theweleit anschaulich darlegt, ebenso Grundmuster all der Schattenseiten dieser Erfolgsgeschichte: Kolonialisierung, Rassismus, Ausbeutung, Umweltzerstörung… alles Formen von Abspaltungen, Segmentierungen.

Ihren vorläufigen Endpunkt finden Segmentierung und Sequenzierung in der Digitalisierung, d.h. der Fähigkeit fast die ganze Welt in Abfolgen von 0 und 1 zu zerlegen und in verschiedensten Kombinationen aneinanderzufügen. Armin Nassehi arbeitet heraus, dass gerade die Vereinfachung der Grundstruktur für Segmentierung auf 0/1 eine unbegrenzte Ausdifferenzierung in der Sequenzierung ermöglicht. Zum Verständnis hilft möglicherweise der Vergleich mit der Entwicklung der Schrift: Begonnen hat es mit Bildsymbolik (Höhlenmalerei), die zunächst wenig Variantionen ermöglichte: Ein Bild eines Jägers war das Bild eines Jägers. Es folgten Zeichensymbole wie die Hieroglyphen oder die chinesischen Schriftszeichen, die mehr Variationsmöglichkeiten boten, aber mit ihrer Vielzahl an Zeichen vergleichsweise kompliziert zu nutzen und gleichzeitig immer noch eingeschränkt blieben. Die Zeichen selbst blieben festgelegt auf einen gewissen symbolischen Gehalt. Schließlich setzte sich das Alphabet durch: Kaum mehr als zwanzig Zeichen, die selbst keinen symbolischen Inhalt mehr haben, aber sich zu allen möglichen Lautfolgen, kombinieren lassen. Reduzierung der Grundstruktur bei gleichzeitiger Erhöhung der Variabilität und Komplexität. Segmentierung und Sequenzierung als Voraussetzung für quasi unendliches Wachstum.

Segment-Ich

Zunehmende Segmentierung finden wir also als basales Phänomen in der Gesellschaft – aber eben auch in der menschlichen Psyche. Der Vorstellung eines konsistenten Ich, das immer weitestgehend ähnlich tickt und zur Not die schlecht integrierbaren Anteile oder Erfahrungen abspaltet, setzt Theweleit das Konzept eines Segment-Ich entgegen. Dieses Segment-Ich kann „vom Frühstückstisch die Kinder freundlich auf den Schulweg bringen, (Ehe)Partner mit Kuss veraschieden, auf dem Weg zur Arbeit Date mit Liebespartner vereinbaren, um 10:00 h im Büro ein Aktiengeschäft tätigen, das seine Rendite u.a. über Waffenproduktionen einfährt; um 10:50 h für hungernde Kinder in Indien spenden sowie für eine Institution, die sich um Kindersoldaten im Kongo kümmert; um 11:30 h einen Untergebenen zur Sau machen wegen lascher Arbeitsauffassung; in der Mittagspause nett zu allen Mitessern sein (für deren Entlassung er in der Sitzung um 14:30 h plädiert, da notwendig im Sinne der Firma); zwischendrin das Blatt lesen, das alle Kriege und soziale Ungerechtigkeiten geißelt“ usw. usf. (Theweleit 2020, S. 350). Das Segment-Ich tut lauter Dinge, die zusammen gedacht höchst widersprüchlich erscheinen. Es ist Virtuose im umschalten, im segmentieren von kognitiven Dissonanzen. Dabei ist es sich dieser verschiedenen Ich-Zustände durchaus bewusst und kann sie an- und abschalten. Nichts wird abgespalten oder verdrängt. Zustände werden aneinander gereiht.

Ähnliches formuliert Martin Dornes. Er hat eine Überblicksdarstellung über vielfältige Studien zu Veränderungen psychischer Grundstrukturen verfasst und kommt zu dem Schluss: „Die psychischen Instanzen von Es, Ich und Über-Ich sind weniger gegeneinander abgeschottet als früher, der Charakter ist weniger starr, aber unter bestimmten Umständen auch weniger belastbar, die Verdrängungen sind reversibler und weniger endgültig.“ (Dornes 2012, S. 349) Mit anderen Worten: der gesellschaftliche Strukturwandel schlägt sich in einem Sozialcharakter nieder, der den modernen Anforderungen an Flexbilität besser enstpricht als beispielsweise der „autoritäre Charakter“ vergangener Jahrzehnte. Die ständige Anpassungsleistung an wechselnde Kontexte führt gleichzeitig aber zu einer erhöhten Verletzlichkeit – vor allem, weil das Individuum auf immer wieder neue Resonanz aus den unterschiedlichen Kontexten angewiesen ist und sich darum bemüht, sich diesen Resonanzen entsprechend zu verhalten.

Besonders weit fortgeschritten ist diese Entwicklung nach Martin Altmeyer in den Generationen, die in der digitalen Moderne mit ihrer zusätzlichen Segmentierung in sozialen Netzwerken aufwachsen. Hier kommt zum Segment-Ich noch ein „Hang zur psychischen Exzentrik, die sich in der Lust am Performativen und Selbstdarstellerischen zeigt“ (Altmeyer 2019, S. 810), hinzu. Altmeyer schlägt für diesen Sozialcharakter die Bezeichnung „exzentrisches Selbst“ vor – exzentrisch, weil es „buchstäblich aus sich und seinem inneren Zentrum herausgeht (…): Die exzentrische Persönlichkeit neigt dazu, ihr Innerstes nach außen zu kehren, um der ganzen Welt zu zeigen, wer sie ist, was sie empfindet, wie sie denkt, was sie will und kann. Dabei bemüht sie sich um ein möglichst authentisches Auftreten. Sie versucht sich weder zu verstecken noch zurückzuhalten, sondern ihre wahren Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle unverstellt auszudrücken. Im Schlepptau dieses zeittypischen Drangs nach medialer Sichtbarkeit bahnt sich ein Verlangen nach sozialer Resonanz den Weg von innen nach außen, das ebenso zeittypisch ist.“ (Altmeyer 2019, S. 810)

Überdehnung des Segment-Ich?

Folgt man Theweleit, Dornes und Altmeyer, dann ist diese Modernisierung der Seele durch Segmentierung und Flexibilisierung eine natürliche, evolutionäre und – nach Dornes und Altmeyer – geeignete Antwort auf die Anpassungszumutungen moderner Gesellschaften. Dornes und Altmeyer sind deshalb auch optimistisch im Hinblick auf die Zukunft: Sie sehen keine Anzeichen für eine Zunahme psychischer Störungen, sondern im Gegenteil ein wachsende Fähigkeit gerade jüngerer Generationen, mit den Herausforderungen der segmentierten Moderne umzugehen.

Für mich persönlich erscheint das Konzept des Segment-Ich höchst plausibel. Allerdings frage ich mich, ob die Sehnsucht nach Sinnstiftung und Authentizität nicht doch auch als ein Symptom der Überforderung durch Hypersegmentierung gesehen werden kann. Gerade in solchen Momenten, in denen Muße zur Selbstreflexion herrscht (z.B. Coachings oder in corona-bedingten Auszeiten), werden die inneren Spannungen zwischen den Segment-Ichs überdeutlich. Die kognitiven Dissonanzen werden nicht länger segmentiert, sondern zu einem spannungsreichen Gesamtbild gefügt. Wir geraten tatsächlich in massive innere Konflikte à la „Ich weiß um den Klimawandel – und fliege dennoch auf die Malediven“.

Vielleicht erleben wir gerade eine Zeit, in der die Fähigkeit zur psychischen Segmentierung an ihre Grenzen stößt. Das könnte bedrohlich werden, weil unverkraftbare Spannungsverhältnisse wie Sprengstoff auf die Psyche wie die Gesellschaft wirken können. Wir finden zwar immer noch die klassischen unbewussten Verarbeitungsmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung, Abspaltung (z.B. bei der Corona-Leugung oder der Leugnung des Klimawandels). Aber wenn sich die Wirklichkeit über das eine oder andere Segment-Ich dann doch ins Bewusstsein schleicht, funktionieren diese unbewussten Abwehrmechanismen nicht mehr. Dann weiß ich, dass ich verdränge – und halte es irgendwann nicht mehr aus.

Darin läge auch eine echte Chance für eine sozial-ökologische Transformation und für ein Ende des Beschleunigungs- und Wachstumsmythos. Denn die Erfahrung zeigt, dass Veränderungen ein gewisses Maß an Leidensdruck und Konfrontation mit unliebsamen Realitäten erfordern. So lange wir kognitive Dissonanzen problemlos aneinanderreihen und soziale und ökologische Fragen immer weiter segmentieren, werden notwendige grundlegende und sinnvoll-integrierende Entscheidungen eher selten bleiben. Vermutlich sind wir erst dann bereit, tiefgreifende Veränderungen einzuleiten, wenn uns diese Segmentierung psychisch nicht mehr gelingt. In jedem Fall braucht es dringend noch mehr gesellschaftlichen Dialog und mehr Muße zur Selbstreflexion, um die Segment-Ichs miteinader ins Gesprch zu bringen und den Sprengstoff zu entschärfen.

Coaching und Supervision sind dafür übrigens sehr geeignete Ansätze.

Literatur

Hier ein Vorschlag für Online-Abende mit Freunden an langen Lockdown-Winterwochenenden: Spielen Sie doch einmal Verschwörungstheorie-Karaoke. Sie kennen vielleicht schon Powerpoint-Karaoke? Bei diesem Spiel referiert jemand aus dem Stegreif zu einer ihm völlig fremden Powerpoint-Präsentation. Wie wäre es nun aber mit einer Variation: Denken sie sich Ihre eigenen Verschörungstheorien aus. Eine Beispiel:

  1. Greifen Sie ein beliebiges Thema auf, dass gerade in der Öffentlichkeit diskutiert wird, wie z.B.: „Wieso stehen eigentlich nicht genügend Impfdosen zur Verfügung?“
  2. Suchen Sie sich eine schlüssige, aber von keinerlei Faktenkenntnis getrübte Erklärung: „Bill Gates hat die Imfungen gestoppt, weil die Chips, die er uns allen einpflanzen will, zu groß für die Kanülen der Spritzen waren.“
  3. Schmücken Sie diese Begründung mit „Argumenten“ und „Belegen“ aus: „Ich weiß von einer Firma im Spessart, die gerade mit Hochdruck daran arbeitet, die Chips kleinzuschneiden. Der Onkel meiner Schwester hat über den Bruder seiner Frau von einer Bestellung von mehreren Tausend Präzisionsmessern bei einem Unternehmen in Solingen erfahren, die diese Firma in Auftrag gegeben hat.“
  4. Verknüpfen Sie die Theorie mit bekannten Verschwörungsmythen, um sie noch wasserdichter zu machen: „Im QAnon-Netzwerk gibt es ganz viele Fotos, die beweisen, dass Bill Gates inkognito nach Solingen gereist ist, um die Messerproduktion zu überwachen.“
  5. Lassen Sie Ihre Theorie durch kritische Fragen testen – „Und was hat die Pharmaindustrie davon? Die wollen doch möglichst schnell viel Impfdosen verkaufen, bevor die Russen und die Chinesen das übernehmen!“ – und lassen Sie sich dadurch auf keinen Fall aus dem Konzept bringen: „Weißt Du denn etwa nicht, dass die Pharmaindustrie das meiste Geld nicht mit den Impfstoffen macht, sondern mit den Spritzen. Deshalb lachen die sich ins Fäustchen, weil sie jetzt allen erst mal zu kleine Kanülen verkauft haben. Aber das darf ja keiner laut sagen, sonst würde der ganze Betrug mit den Chips ja auffliegen.“

Sie können jeder Ihre eigene Verschwörungstheorie entwickeln und dann die beste prämieren oder auch gemeinsam eine Geschichte daraus spinnen. Und wenn Sie dann noch nicht genug Absurditäten gehört haben:

6. Testen Sie die Tauglichkeit Ihrer Theorie in sozialen Netzwerken und schauen Sie am nächsten Wochenende nach, welche sich am besten verbreitet hat.

PS: Nach meiner Beobachtung sind Verschwörungsmythen übrigens nicht nur ein Phänomen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Allzu oft werden auch in Unternehmen und Organisationen einfache Erklärungen gesucht und gefunden, wieso sich jemand so oder so verhält – ohne ernsthaft zu überprüfen oder nachzufragen, welche Beweggründe tatsächlich dahinter stecken.

Vielleicht gelingt es uns nach den Erfahrungen des Jahres 2020 ja eine Lehre zu ziehen: Der vulgäre Freiheitsbegriff der vergangenen drei Jahrzehnte sollte endlich ausgedient haben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion proklamierte Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“. Gemeint war, dass der wettbewerbsorientierte Kapitalismus als siegreiche Gesellschaftsform übrig geblieben war und damit das Gesellschaftmodell der Zukunft ein für allemal feststand. Dieses Gesellschaftsmodell setzt vor allem auf die Individualität und Freiheit des Einzelnen, auf dass sich die besten Ideen im Wettbewerb durchsetzen und am Ende alle davon profitieren. An sich keine schlechte Idee – ich bin Selbstständiger und ich schätze Autonomie und Freiheit sehr. Doch wie immer im Leben, wenn man anfängt, etwas zu übertreiben, geht es schief.

Die Übertreibung liegt hier im allzu vulgären Umgang mit der Idee der Freiheit: Nach den Prinzipien „Jeder ist seines Glückes Schmied“, „Der Staat soll sich möglichst aus allem heraushalten“ und „Der Markt wird es schon richten“ wurden immer mehr gesellschaftliche Bereich dem „freien Spiel der Kräfte“ überlassen. Dabei wurde übersehen bzw. billigend in Kauf genommen, dass

  • die Schwächeren bei diesem Spiel zwangsläufig den Kürzeren ziehen (die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen hat dramatisch zugenommen),
  • im ständigen (internationalen) Wettbewerb der Druck auf den einzelnen Marktteilnehmer (Individuen, Unternehmen, ganze Staaten) zu zunehmender (Selbst-)Ausbeutung und Externalisierung von Kosten (v.a. Umweltzerstörung, soziale Sicherheit) führt
  • und dass schließlich sogar nach und nach die Vorstellung abhanden kam, dass man an diesen zerstörerischen Nebenwirkungen überhaupt irgend etwas ändern könnte.

Besonders deutlich zeigt sich dies gegenüber der Herausforderung des Klimawandels. Angesichts der Größenordnung des Problems ist der Einzelne kaum oder gar nicht in der Lage, einen messbaren Beitrag zu leisten. Dennoch lautet die Argumentation oft: Wenn die Konsumenten nur begönnen, umweltbewusster zu konsumieren, dann würden sich die Unternehmen entsprechend umstellen. Wehe dem, der diese Konsumfreiheit regulieren will (Stichwort: Veggie-Day). Die Verantwortung für die Veränderung wird an das freie Individuum delegiert, das damit jedoch völlig überfordert ist.

Corona hat uns nun jedoch gelehrt, dass es angesichts von Herausforderungen, die vom freien Spiel der Kräfte schlicht nicht zu bewältigen sind, eines starken Staates bedarf, der reguliert und eingreift – und der dafür auch mehrheitlich Zustimmung aus der Bevölkerung erfährt. An diese Stelle gehört vermutlich der Hinweis, dass der Staat ja auch gar nichts anderes als die verfassungsmäßig organisierte Bevölkerung ist. Ein starker Staat ist keineswegs automatisch ein tyrannischer, diktatorischer Staat. Selbstverständlich meine ich mit starkem Staat eine demokratisch verfasste Gesellschaftsform.

Im Grunde haben wir es hier mit einem uralten Problem im Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Individuum zu tun, das der Ökonom John Maynard Keynes vor rund 100 Jahren schon einmal treffend auf den Punkt gebracht hat: „Die wichtigsten Agenden des Staates betreffen nicht die Tätigkeiten, die bereits von Privatpersonen geleistet werden, sondern jene Funktionen, jene Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft.“ (aus John Maynard Keynes: Das Ende des Laissez-Faire). Die Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft. In der Corona-Krise haben Politikerinnen und Politiker glücklicherweise eine Reihe solcher Entscheidungen im Auftrag der Bevölkerung getroffen. Sie haben den Mut dafür aufgebracht – und wurden mit hohen Zustimmungswerten belohnt. Die Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft. Angesichts des Klimawandels stehen eine Menge solcher Entscheidungen noch aus. Da würde ich mir eine Rückkehr des starken Staates wünschen.

Ich glaube sogar, dass es unserer Seele guttun würde, wenn wir uns als Kollektiv dabei endlich handlungsfähig erleben könnten.

Das Wort Querdenker habe ich noch nie gemocht. Heute weiß ich auch, warum. Wenn sich früher – also vor Corona – Menschen als Querdenker bezeichnet haben, schien mir das immer schon eine Phrase zu sein. Ich verbinde damit die Vorstellung, dass ein Querdenker für sich in Anspruch nimmt, stets eine originelle, von der Mehrheit abweichende Position zu vertreten. Eine andere Meinung zu haben als andere, ist aber kein Wert an sich. Es ist nicht einmal ein Wert an sich, überhaupt zu allem eine eigene Meinung zu haben.

Unsere Welt ist viel zu komplex, als dass jede und jeder über alles Bescheid wissen könnte. Unsere Welt ist glücklicherweise funktional differenziert, so dass wir über Expertenwissen verfügen können, auch wenn wir das nicht immer alles selbst nachvollziehen können. Ich persönlich will das auch gar nicht. Mein Leben wäre viel zu anstrengend, wenn ich mein Handy nicht nur benutzen, sondern auch verstehen wollte. Oder meinen Kühlschrank. Oder die exakte Wirkungsweise von Medikamenten, die ich einnehme. Ich entscheide mich sehr oft bewusst und noch viel öfter sicher unbewusst, darauf zu vertrauen, dass andere das schon richtig machen. Manchmal scheint es allerdings so, als sei dies für einige Menschen eine kaum aushaltbare Kränkung: nicht überall mitreden zu können.

Statt quer zu denken, würde es mir schon genügen, wenn wir einfach nur denken. Es schadet sicher auch nicht, dabei einigermaßen methodisch vorzugehen. Dialektisch z.B.: These – Antithese – Synthese. Da ist das Querdenken ja quasi schon inbegriffen, ohne dass es zum individualistischen Ideal oder zum Ausdruck intellektueller Unabhängigkeit hochstilisiert werden müsste.

Kompromisse sind langweilig. Sie kommen oft nach langen, zähen Verhandlungen zustande. Oft erkennen die Beteiligten ihre Ausgangspositionen nur noch schemenhaft wieder. Auf dem Weg dorthin geht der Feuereifer verloren, mit dem man sein ursprüngliches Ziel einmal verfolgt hat. Kompromisse fordern Perspektivwechsel ab: Was von der Gegenposition kann ich annehmen? Was nachvollziehen? Und am Ende soll man ein solches Verhandlungsergebnis auch noch verteidigen. Eine ganz schöne Zumutung.

Aber Kompromisse sind großartig. Sie halten eine Gesellschaft zusammen. Sie machen das Zusammenleben überhaupt erst möglich.

In normalen Zeiten scheint unsere Gesellschaft mit dieser Zumutung ganz gut umgehen gelernt zu haben. Vermutlich auch deshalb, weil jeder* sich in einer offenen und freien Gesellschaft notfalls seine kleine Nische schaffen kann, in der er kompromisslos sein Ding machen kann. Nun scheinen wir aber auf einen herausfordernden Monat November und vermutlich auf einen anstrengenden Winter zuzusteuern. Und dummerweise ist die Bekämpfung der Pandemie keine Privatangelegenheit. Sie verlangt die Fähigkeit zum Kompromiss.

Make Kompromissbereitschaft great again.

*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichte ich hier auf gendergerechte Sprache. Ich bitte die geneigte Leserschaft auch in diesem Fall um Kompromissbereitschaft.

Krisen- und Konfliktmanagement, die Frage nach Entwicklungsmöglichkeiten oder einfach nur der Wunsch nach einem unabhängigen Feedback – es gibt mehrere Gründe, warum viele im Berufsleben auf ein begleitendes Coaching setzen. Doch der Coachingmarkt ist unübersichtlich und die Berufsbezeichnung nicht geschützt. Daher gilt: Augen auf bei der Coachauswahl. Aber was macht einen guten Coach aus?

Die Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv) hat hierzu im Sommer eine Radiokampagne durchgeführt. Unter dem Titel „Gute Beratung! Supervision und Coaching im Beruf“ lief die Produktion auf Sendern wie dem Berliner Rundfunk, Radio Frankfurt, verschiedenen Antenne-Sendern, Radio SAW u.v.m.

Hier können Sie das Gespräch mit dem Geschäftsführer des Berufsverbands Paul Fortmeier nachhören. (© DGSv)

Im November 2019, lange vor Corona, in einer versunkenen Zeit, hatte die Redaktion der Zeitschrift „Supervision“ einige Supervisor/innen und Coaches zu einem Brainstorming eingeladen. Ziel war es, eine Ausgabe der Zeitschrift zu den Zukunftsperspektiven der Supervision vorzubereiten. Diese Ausgabe ist nun, im Juli 2020, erschienen, mit einem Beitrag von Robert Erlinghagen über „Die ungewisse, aber goldene Zukunft der Supervision“.

Bemerkenswerterweise sind die Beiträge allesamt weiterhin aktuell, obwohl sich doch scheinbar durch Corona so vieles geändert hat. Vielleicht sind sie sogar aktueller, als vor der Pandemie – denn

  • erstens sind Supervision und Coaching ja diejenigen Professionen, die ein Innehalten im Berufsalltag ermöglichen – also im Kern genau solche Phasen begleiten, wie wir sie als Gesellschaft derzeit erleben und
  • zweitens stehen Supervision und Coaching für einen professionellen Umgang mit Mehrdeutigkeit, Ungewissheit, unterschiedlichen Perspektiven und ergebnisoffenen Prozessen der Kommunikation über und Organisation von Arbeit. Und Ungewissheit ist ja so etwas wie der Markenkern der Corona-Pandemie.

Genau deshalb ist die Zukunft dieser Professionen auch golden: Weil der Bedarf an Nachdenklichkeit, an der Fähigkeit mit Ungewissheit und Widersprüchlichkeit im Berufsleben umgehen zu können, tendenziell zunehmen wird – Corona hin oder her. Darüber hinaus wächst – wie der Soziologe Hartmut Rosa veranschaulicht – das Bedürfnis nach Resonanz. Supervisor/innen und Coaches sind Profis darin, genau dies zu ermöglichen, während sie gleichzeitig die ökonomische Anforderung der Effektivität beruflichen Handelns nicht aus dem Blick verlieren. Supervisor/innen und Coaches arbeiten systematisch mit den unterschiedlichsten antagonistischen Prozessen, wie sie sich in der Corona-Krise noch einmal zugespitzt haben.

Ungewiss ist die Zukunft sowieso immer. Im speziellen Fall der Entwicklungsperspektiven für Supervision und Coaching ist sie deshalb besonders ungewiss, weil die Anforderungen an die Professionen steigen. Das Fazit des Beitrags zur goldenen, aber ungewissen Zukunft lautet: Coaches und Supervisor/innen benötigen nicht nur die oft beschworene Methodenvielfalt. Sie benötigen auch eine Welterklärungsvielfalt – also viele verschiedene Ansätze, die Arbeitswelt zu verstehen. Auch dies hat sich in der Corona-Krise noch einmal verdeutlicht: Es ist gar nicht so leicht, unterschiedliche Denksysteme (hier: Virologie, Ökonomie, Politik, Psychologie, Medien usw.) miteinander in ein konstruktives Gespräch zu bringen. Selbst wenn man glaubt, sich verstanden zu haben, führen die inneren Logiken der unterschiedlichen Denkschulen fast unweigerlich zu Missverständnissen, Fehlinterpretationen und in der Folge zu wechselseitiger Kritik bis hin zu Schuldzuweisungen oder gar Verschwörungsmythen. Auch dies ist eine Kernkompetenz von Coaches und Supervisor/innen: Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven, Biografien, inneren Landkarten ins Gespräch zu bringen – und nicht zu früh mit dem Nachfragen aufzuhören.

Allerdings: Sind Coaches und Supervisor/innen z.B. selbst ausreichend in der Lage, die Komplexität z.B. der Digitalisierung zu reflektieren? Sind sie in der Lage, den gap zwischen digital natives und digital immigrants auch in den eigenen Reihen zu überwinden? Sind sie bereit, sich aus den verschiedensten Quellen (Psychologie, Soziologie, Ökonomie, …) inspirieren zu lassen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben? Wird es ihnen gelingen, den Nutzen ihrer Fähigkeit im Umgang mit Ambiguitäten und Ungewissheiten nachvollziehbar zu vermitteln?