Vielleicht gelingt es uns nach den Erfahrungen des Jahres 2020 ja eine Lehre zu ziehen: Der vulgäre Freiheitsbegriff der vergangenen drei Jahrzehnte sollte endlich ausgedient haben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion proklamierte Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“. Gemeint war, dass der wettbewerbsorientierte Kapitalismus als siegreiche Gesellschaftsform übrig geblieben war und damit das Gesellschaftmodell der Zukunft ein für allemal feststand. Dieses Gesellschaftsmodell setzt vor allem auf die Individualität und Freiheit des Einzelnen, auf dass sich die besten Ideen im Wettbewerb durchsetzen und am Ende alle davon profitieren. An sich keine schlechte Idee – ich bin Selbstständiger und ich schätze Autonomie und Freiheit sehr. Doch wie immer im Leben, wenn man anfängt, etwas zu übertreiben, geht es schief.
Die Übertreibung liegt hier im allzu vulgären Umgang mit der Idee der Freiheit: Nach den Prinzipien „Jeder ist seines Glückes Schmied“, „Der Staat soll sich möglichst aus allem heraushalten“ und „Der Markt wird es schon richten“ wurden immer mehr gesellschaftliche Bereich dem „freien Spiel der Kräfte“ überlassen. Dabei wurde übersehen bzw. billigend in Kauf genommen, dass
- die Schwächeren bei diesem Spiel zwangsläufig den Kürzeren ziehen (die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen hat dramatisch zugenommen),
- im ständigen (internationalen) Wettbewerb der Druck auf den einzelnen Marktteilnehmer (Individuen, Unternehmen, ganze Staaten) zu zunehmender (Selbst-)Ausbeutung und Externalisierung von Kosten (v.a. Umweltzerstörung, soziale Sicherheit) führt
- und dass schließlich sogar nach und nach die Vorstellung abhanden kam, dass man an diesen zerstörerischen Nebenwirkungen überhaupt irgend etwas ändern könnte.
Besonders deutlich zeigt sich dies gegenüber der Herausforderung des Klimawandels. Angesichts der Größenordnung des Problems ist der Einzelne kaum oder gar nicht in der Lage, einen messbaren Beitrag zu leisten. Dennoch lautet die Argumentation oft: Wenn die Konsumenten nur begönnen, umweltbewusster zu konsumieren, dann würden sich die Unternehmen entsprechend umstellen. Wehe dem, der diese Konsumfreiheit regulieren will (Stichwort: Veggie-Day). Die Verantwortung für die Veränderung wird an das freie Individuum delegiert, das damit jedoch völlig überfordert ist.
Corona hat uns nun jedoch gelehrt, dass es angesichts von Herausforderungen, die vom freien Spiel der Kräfte schlicht nicht zu bewältigen sind, eines starken Staates bedarf, der reguliert und eingreift – und der dafür auch mehrheitlich Zustimmung aus der Bevölkerung erfährt. An diese Stelle gehört vermutlich der Hinweis, dass der Staat ja auch gar nichts anderes als die verfassungsmäßig organisierte Bevölkerung ist. Ein starker Staat ist keineswegs automatisch ein tyrannischer, diktatorischer Staat. Selbstverständlich meine ich mit starkem Staat eine demokratisch verfasste Gesellschaftsform.
Im Grunde haben wir es hier mit einem uralten Problem im Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Individuum zu tun, das der Ökonom John Maynard Keynes vor rund 100 Jahren schon einmal treffend auf den Punkt gebracht hat: „Die wichtigsten Agenden des Staates betreffen nicht die Tätigkeiten, die bereits von Privatpersonen geleistet werden, sondern jene Funktionen, jene Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft.“ (aus John Maynard Keynes: Das Ende des Laissez-Faire). Die Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft. In der Corona-Krise haben Politikerinnen und Politiker glücklicherweise eine Reihe solcher Entscheidungen im Auftrag der Bevölkerung getroffen. Sie haben den Mut dafür aufgebracht – und wurden mit hohen Zustimmungswerten belohnt. Die Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft. Angesichts des Klimawandels stehen eine Menge solcher Entscheidungen noch aus. Da würde ich mir eine Rückkehr des starken Staates wünschen.
Ich glaube sogar, dass es unserer Seele guttun würde, wenn wir uns als Kollektiv dabei endlich handlungsfähig erleben könnten.